Es ist schwer, am Anfang anzufangen und der Versuchung zu widerstehen, weiter zurückzugehen. Also: Das erste Mal hörte ich William Parker und Shoji Hano mit Peter Brötzmann in Berlin 1988 beim FMP-Festival. Ich habe freilich geschlafen, weil ich in einem Rutsch von Graubünden nach Berlin gefahren bin und dabei einen veritablen Platzhalter: meiner neunhundert Kilometer langen IC-Kaffee- und Radeberger-Runden abgegeben habe. 1990 gab es diese Nullnummer in der Roten Fabrik mit Cecil Taylor, Gunter Hampel, Tony Oxley und William Parker. «Was it controversial?» wollte er ein jahr später von mir wissen, als wir zusammen im Bandbus der Brötzmann-März-Combo über Autobahnen bretterten. Im Herbst I995 ergab es sich, dass William und Hano, unabhängig voneinander, in Europa unterwegs waren. Blitzgeborene Idee, und siehe, beide hatten Zeit und Lust, mit mir ein paar Konzerte in der Schweiz zu machen. Die Formel hiess globalisierend Malans-Manhattan-Tokio. Und so zogen wir los, wie drei aufgekratzte Musiktiere, fanden überall leicht Aufnahme, nur in Chur, in meiner engeren Heimat, musste ich das Konzert selbst organisieren. Wir spielten auf Eintritt, viele der Zuhörerlnnen warteten am Eingang, bis zur Pause bzw. bis die Kasse abgeräumt war. Ich schreibe dies als einer, dem die Pelle der beleidigten Leberwurst wie angegossen sitzt, hört man doch. Es waren an die acht Konzerte, ein jedes wie das Leben auf dem Kamm der Welle. Im «Kreuz» Nidau sorgten Hans Koch und Hartin Schütz für zusätzlichen Furor. Danach gingen wir ins Radio Studio Zürich, um unser gefundenes «Crossing the Boundaries of Affection» festzuhalten. Gefehlt. Wahrheit ist, dass wir gleich nach unserem Zusammentreffen im Bahnhof Zürich ins Studio gegangen sind: Das halbstündige Stück Musik dieser CD ist entstanden, ohne dass wir je vorher miteinander gespielt hätten. Klarer Fall von «Serendipity»--Wortschöpfung von Horace Walpole (1754), wonach die drei Prinzen von Serendip auf ihren Reisen immer wieder Dinge gewannen, mit denen sie nicht gerechnet haben. Thank you, William! Domo arigato, Hano-san!
Nach der kleinen Tournee in der Schweiz werde ich von Hano zu einer 8-Konzerte-6-Städte-Tournee in Japan eingeladen. Und begegne einer Gesellschaft, wo Gemeinsamkeit durch Verzicht auf Widerspruch ein Rezept des Lebens ist. Das dritte Konzert in Tokio ist im Shiniuku Pit lnn (in Auszügen auf dieser CD) und mit «Werner Ludi Night» angekündigt. Hano hat Tetsu Yamauchi eingeladen. Tetsu spricht ein singendes Cockney-Englisch, er lebte mehrere jahre in London, hat wüste Zeiten mit Ginger Baker hinter sich, und auch heute, mit fünfzig, ist er noch leidenschaftlicher Sake-Trinker. Hano ist das Gegenteil, raucht und trinkt nicht. Ich beobachte ihn, wie er sich in der winzigen Garderobe mental aufs Konzert vorbereitet. Kopfstand, : Stretch-Übungen, Atem- und Schlagtechniken. Er bandagiert sich die Unterarme, zieht sich Reisstrohschuhe an und ein reich besticktes Wams, Stirnband. Hano wünscht sich als Start ein Duo. Hano und ich stehen uns gegenüber, wie ein Sumo-Ringer beschwört er den Raum mit weitausholenden Handbewegungen; schnaubende Atemstösse, ein gellender Schrei--ein erster Schlag auf die TrommeI, ein Brüllen aus den Tiefen des Bariton, und Schlag auf Schlag beginnt der Shinkansen, Japans Geschoss auf Schienen, sich zu bewegen. Das erste Set dauert an die 70 Minuten, 20 Minuten Pause, zwei Tassen Grüntee; danach beginnt das zweite, nicht minder rastlose Set zu fliegen. Hano wechselt jede Viertelstunde sein T-Shirt. Zwischendurch reisst es ihn vom Hocker, die Augen treten hervor, er krümmt und windet sich und kreischt sich die Lunge aus dem Leib. Der schwerbetrunkene Tetsu zieht eine taumelnde Basslinie durch den Taifun, Hano prügelt seine Trommeln, als müsste er ein Seebeben auslösen. Gleich muss der Blitz kommen, so unvermittelt grell, und bevor es Zeit ist für einen zweiten Gedanken, der Donner der Druckwelle. «Was für ein Glück, dass wir noch: leben», denke ich. Die 60 Leute im Lokal toben, einige darunter haben die beiden Sets durchgetanzt. Auf dem Weg zurück ins Hotel lädt mich Hano zu einem mitternächtlichen Nudelgericht ein. Er will wissen, wie es mir gefallen hat. «Oh, es hatte bestimmt 'ki'.» Er bekräftigt: «'ki' steht in Japan zuoberst, wenn es um Musik geht. Oder um Kampfsportarten, Heilkraft usw. 'ki' ist Energie.» Ich erzahle, dass wlr uns in Europa etwas schwer tun mit 'ki'. «Bei uns wird das, was ihr 'ki' nennt, oft als Kraftmeierei, als Saurauslassen betrachtet, zu Unrecht», betone ich, «mir wäre lieber, man würde von Hingabe reden.» Hano beginnt auf einem Bierdeckel zu schreiben. Nach einer Weile reicht er mir den Deckel. Es ist ein Haiku, eines jener stets siebzehnsilbigen Gedichte, deren Form Japanerlnnen von Kindheit an lernen. Hano sagt langsam: «Mitsubachiwo osoreru hanani miwa naranu.» Übersetzt: «Keine Angst vor Bienen. Blüten, die sich vor Bienen fürchten, werden nlemals Früchte tragen.»
Ich bin platt. So also zerstreut man mit siebzehn Silben die Unsicherheit und schürt sie gleichzeitig wieder. Hano: «Ein gutes Haiku enthält eine Million Assoziationen. Jeder muss es für sich selbst interpretieren--mit seinem Herzen. Wo bei euch der Verstand, ist bei uns mehr das Gefühl.» Dabei ordnet er seine Züge zu jenem Mehrzwecklächeln, das ich in den nächsten vierzehn Tagen gut kennenlernen sollte.
Der Himmel über Tokio hat die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal eingestellt ist. Wir hocken in unserem Hotelzimmer in Akasaka, einem ruhigen, schon fast beschaulichen VierteI. Ich möchte von meinen japanischen Musikerfreunden erfahren, wie sie die Musikszene in ihrem Land sehen. «Etwas vereinfachend gesagt», beginnt Tetsu, «haben wir in Japan heute zwei Richtungen--nebst all der Plastikscheisse, die's überall auf der Welt gibt. Da ist einmal New Wave. Eigentlich eine 'High-Tech'-Romantik, die für sexuelle Befreiung, nat¨rliche Nahrung, bukolische Hinwendung, persönliche Verwirklichung, kulturellen Pluralismus und stilistische Experimente eintritt. Bezweifelt klar, dass ein Aufschwung inWissenschaft und Technik zur Verbesserung der menschlichen Bedingungen beiträgt. Ist also mehr eine '01d Wave'.» Gelachter. «Auf der andern Seite sehe ich», übernimmt Hano, «die dreisten Punks. Das sind auf der Bhüne hart schuftende Technokraten, die dle wirkliche, von Wissenschaft und Technik gepragte Welt, die Realität des ausgehenden Zwanzigsten Jahrhunderts, voll nutzen. Drogenkonsum steigert die musikalische Kreativität, körperliche Opfer werden in Kauf genommen. Die Verknüpfung von elektronischer Verstärkung mit dem chemisch aufgeputschten Menschen wird unter Technologie abgehakt. Will sagen, elektronische Verstärkung und bewusstseinserweiternde Drogen haben die menschliche Wahrnehmung und Psyche verändert. Die Musik ist entsprechend: superlaut und irre verrückt. Wir betrachten dies keineswegs mit Entsetzen, sondern positiv.» «Sind das jetzt die Cyberpunks?» versuche ich etwas beizutragen. «Mehr als das, durch Wissenschaft und Technik werden wir dereinst den Aliens begegnen, und das werden wir selber sein.» Wieder seln Mehrzwecklächeln. Diesmal, meine ich, kann ich es deuten: Wo anders, sagt es mit Stolz, als in meinem Land, kann man in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft sein?